Eine Schülerin arbeitet im Unterricht am Laptop und guckt über ihre Schulter in die Kamera.
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„Es gibt sehr, sehr viele gute Gründe dafür“ – ein Interview mit der Professorin für Digitale Bildung, Katharina Scheiter

Seit über zehn Jahren forscht Professorin Katharina Scheiter zum multimedialen Lernen. Die Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam weiß, wie sich digitale Medien lernwirksam im Unterricht einsetzen lassen, worauf Lehrkräfte bei der Auswahl von Apps achten sollten und wie wichtig der Faktor Motivation ist – ein Interview.

Einfach.Digital.Lernen.: Frau Scheiter, ich möchte mit einer Grundsatzfrage beginnen: Warum sollten Lehrkräfte digitale Medien im Unterricht einsetzen?
Katharina Scheiter: Es gibt sehr, sehr viele gute Gründe dafür, die üblicherweise unter dem Schlagwort „Potenziale digitaler Medien“ zusammengefasst werden. Sie ermöglichen zum Beispiel, unterschiedliche Darstellungsformate einzusetzen. Durch interaktive Formate können Schülerinnen und Schüler etwa Prozesse aktiv beeinflussen, wie in einer Simulation. Über das Internet haben sie Zugriff auf zahlreiche Inhalte, und können die jeweils für ihre Lernziele relevanten Inhalte auswählen. Inzwischen gibt es auch eine Reihe von Systemen, die den Lerninhalt oder die Lernmaterialien an die Lernenden anpassen, also adaptives oder personalisiertes Lernen ermöglichen.

Einfach.Digital.Lernen.: Oftmals ist mit dem Einsatz digitaler Medien im Unterricht auch die Annahme verbunden, dass diese den Lernprozess unterstützen. Was sagt die Forschung dazu?
Scheiter: Dass bestimmte Merkmale digitaler Medien den Wissenserwerbsprozess unterstützen können, ist eine grundlegende Annahme, auf der digitalgestützter Unterricht basiert. Ein Beispiel: Wenn Schülerinnen und Schüler sich eine Vorstellung davon machen sollen, wie ein dynamischer Prozess in den Naturwissenschaften abläuft, beispielsweise die Zellteilung in der Biologie, dann ist es naheliegend, dafür dynamische Visualisierungen einzusetzen, die genau dieses prozesshafte Geschehen abbilden. Dadurch können sie sehen, was mit der Zelle im Rahmen der Zellteilung passiert. Damit sollte, der Annahme folgend, besseres Lernen verbunden sein. Das ist tatsächlich aber nicht immer so einfach nachweisbar. Es gibt viele Studien, in denen sich der Lernerfolg zwischen dem Einsatz dynamischer und statischer Darstellungen kaum oder gar nicht unterscheidet. Häufig lässt sich das dadurch erklären, dass die Medien nicht auf das Lernziel abgestimmt sind. Es werden beispielsweise dynamische Visualisierungen für Wissensziele verwendet, bei denen die Dynamik keine Rolle spielt, zum Beispiel, wenn es lediglich um den Aufbau der Zelle geht. Solche ungeeigneten Anwendungen von digitalen Medien finden sich tatsächlich auch in Forschungsarbeiten immer wieder – und dann ist es nicht verwunderlich, dass positive Lerneffekte ausbleiben.

Einfach.Digital.Lernen.: Wie müssen digitale Medien im Unterricht also zum Einsatz kommen, damit sie tatsächlich einen positiven Effekt auf das Lernen haben können?
Scheiter: Sie müssen zunächst einmal geeignet sein, die anvisierten Lernziele zu unterstützen. Außerdem ist entscheidend, dass die verschiedenen Optionen, die Lehrkräfte zur Unterrichtsgestaltung haben, aufeinander abgestimmt sind, sodass das digitale Angebot möglichst gut mit dem analogen Angebot vernetzt ist.

Einfach.Digital.Lernen.: Welche Kompetenzen brauchen Lehrkräfte dafür?
Scheiter: Zunächst brauchen Lehrkräfte natürlich die notwendigen Bedienkompetenzen, um digitale Medien im Unterricht einsetzen zu können. Diese technologischen Kompetenzen bilden die Grundvoraussetzungen. Sie müssen darüber hinaus in der Lage sein, Lernziele beziehungsweise Unterrichtsziele und Medieneinsatz aufeinander abzustimmen. Wie im klassischen Unterricht spielt dabei das pädagogische Wissen eine entscheidende Rolle. Für die Unterrichtsqualität ist außerdem die Motivation der Lehrkräfte ausschlaggebend. Sie müssen – das beobachten wir auch immer wieder in unseren Studien – überzeugt sein, dass digitale Medien ihren Unterricht tatsächlich bereichern können. Das ist ein wichtiger Punkt, der auch in der Lehrerbildung berücksichtigt werden sollte.

Porträtbild von Katharina Scheiter, Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam.
Dr. Katharina Scheiter ist Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam. Foto: IWM Tübingen/Paavo Ruch

Einfach.Digital.Lernen.: Wie lässt sich denn diese Motivation in Aus- und Weiterbildung erreichen?
Scheiter: Die Angebote rund um digitale Bildung in der Aus- und Weiterbildung sollten sich an den Unterrichtsprozessen orientieren. Wie können Lehrkräfte mit digitalen Medien schwache Schülerinnen und Schüler erreichen? Wie können sie mit digitalen Medien Lernende adaptiv unterstützen oder kognitiv aktivieren? Lehrkräfte nehmen digitale Medien viel stärker als Problemlöser wahr, als Möglichkeit, ihnen den Unterrichtsalltag zu erleichtern, wenn sie in Verbindung mit konkreten Unterrichtsaspekten gebracht werden. Damit einher geht dann die erwähnte positive Nützlichkeitsüberzeugung. Bislang sind Angebote in der Aus- und Weiterbildung aber oftmals noch sehr technikfokussiert und heißen etwa „Einsatz des Tablets im Unterricht“. Daraus geht aber nicht hervor, wie die Endgeräte Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Arbeit unterstützen.

Einfach.Digital.Lernen.: Mittlerweile gibt es eine enorme Bandbreite digitaler Lernmaterialien, vor allem zahlreiche Apps, die sich für den Unterricht eignen sollen. Was gibt es bei der App-Auswahl zu beachten, damit ihr Einsatz den Lernprozess tatsächlich unterstützt?
Scheiter: Das vielfältige App-Angebot ist, glaube ich, momentan tatsächlich eine große Herausforderung für Lehrkräfte. Sie müssen nicht nur in der Lage sein, Apps im Unterricht einzusetzen, sondern auch geeignete Anwendungen auszuwählen. In erster Linie müssen die Inhalte, die eine App vermittelt, natürlich fachlich korrekt sein. Ist dies gegeben, gilt es zu prüfen, ob sich die App für die eigene Klassenstufe eignet und ob sie in den Unterrichtsablauf passt. Nicht zuletzt ist zudem entscheidend, wie die App zum Einsatz kommen soll. Sollen die Schülerinnen und Schüler sie zum Beispiel zu Hause zur Vorbereitung nutzen, muss sie viele Erklärungen beinhalten, die die Lehrkraft beim Einsatz im Unterricht selbst geben kann. Abhängig davon wird ein unterschiedliches Angebot benötigt. Es geht darum, dass digitale Angebot kohärent und nachvollziehbar einzubinden.

Einfach.Digital.Lernen.: Brauchen auch Schülerinnen gewisse Kompetenzen, damit digitalgestützter Unterricht lernwirksam sein kann?
Scheiter: Auf jeden Fall. Schülerinnen brauchen Medienkompetenz. Gerade, wenn sie das Internet als Informationsquelle nutzen sollen, ist es wichtig, dass sie die Glaubwürdigkeit von Informationsquellen einschätzen können. Sie brauchen aber auch Fertigkeiten zum selbstregulierten Lernen. Dafür müssen sie in der Lage sein, ihr eigenes Wissen einzuschätzen und Lernaktivitäten auszuwählen, die sie voranzubringen können. Das ist etwas, das auch noch Studierenden und Erwachsenen schwerfällt.

In der Grundschule ist schon ein sehr stark angeleitetes Vorgehen notwendig. Das schließt die Nutzung digitaler Medien aber nicht grundsätzlich aus.

Dr. Katharina Scheiter, Professorin für Digitale Bildung

Einfach.Digital.Lernen.: Eignet sich unter dieser Voraussetzung, dass selbstreguliertes Lernen möglich sein muss, digitalgestützter Unterricht auch schon für die Grundschule?
Scheiter: Wir wissen, dass bestimmte kognitive Voraussetzungen für selbstreguliertes Lernen gegeben sein müssen. Schülerinnen und Schüler müssen in der Lage sein, ihren eigenen Lernprozess zu reflektieren und sich zu steuern. Dafür sind sogenannte exekutive Funktionen im Gehirn notwendig, die sich altersabhängig entwickeln. Davon ausgehend ist in der Grundschule schon ein sehr stark angeleitetes Vorgehen notwendig. Das schließt die Nutzung digitaler Medien aber nicht grundsätzlich aus, sondern lediglich die unregulierte oder wenig extern regulierte Nutzung. Von daher ist es, auch wenn uns dazu noch Daten fehlen, eher sinnvoll, digitale Medien früh einzuführen und die Schülerinnen und Schüler dabei entsprechend anzuleiten. Kinder haben bereits früh Zugang zu digitalen Medien. Damit sie diese nicht nur als Entertainment-, sondern auch als Arbeitswerkzeug kennenlernen, sollten sie genauso früh in der Schule zu üben beginnen, wie sie sich mit ihnen Wissen erschließen können.

Einfach.Digital.Lernen.: Eine weitere Annahme, die mit digitalgestütztem Unterricht verbunden wird, ist, dass der Einsatz digitaler Medien die Lernmotivation der Schüler*innen fördert. Gibt es dazu Studien, die das unterstützen?
Scheiter: Wir haben tatsächlich Daten, die sowas nahelegen; sie merken aber, ich bin etwas zögerlich. Viele dieser Effekte, die man in empirischen Studien findet, sind sogenannte Neuigkeitseffekte. Das heißt, es kommt etwas Neues in den Unterricht, das die Kinder kurzfristig begeistert, weil es Abwechslung bietet. Die interessantere Frage ist aber: Übersetzt sich diese erste Begeisterung anschließend in eine nachhaltige Motivation, die für das Lernen relevant ist? Sind die Schülerinnen und Schüler also wirklich motivierter, sich mit Mathematik auseinanderzusetzen, weil sie mit einem digitalen Medium arbeiten? Um uns dieser Frage zu nähern, haben wir über einen längeren Zeitraum, insgesamt über 18 Monate, im Zuge einer Studie beobachtet, wie sich die Anstrengungsbereitschaft im Mathematikunterricht entwickelt. In den Klassen, die ohne Tablets unterrichtet wurden, findet sich ein ganz typisches Befundmuster wieder: Die Anstrengungsbereitschaft nahm in der siebten, achten Klasse ab. In den Tablet-Klassen dagegen konnte die Anstrengungsbereitschaft aufrechterhalten werden. Das gilt zunächst für das erste Schulhalbjahr, nachdem die Tablets eingeführt wurden. Da lässt sich in der Tat noch von einem Neuigkeitseffekt sprechen. Wir konnten aber auch beobachten, dass die Unterrichtsqualität die Anstrengungsbereitschaft mitbestimmt. Das heißt, in den Klassen, in denen die Lehrkräfte mit den Tablets qualitativ hochwertigen Unterricht gestalteten, blieb die Anstrengungsbereitschaft auch über das erste Schulhalbjahr hinaus auf einem hohen Niveau. Wurde mit den Tablets aber wenig kognitiv aktivierender und unterstützender Unterricht gemacht, sank die Anstrengungsbereitschaft in den Tablet-Klassen genauso wie in den Klassen, die ohne Tablets arbeiteten. Entscheidend ist demnach nicht nur das Medium, sondern was Lehrkräfte mit dem Medium für Unterricht machen.


Zur Person

Dr. Katharina Scheiter ist seit Mai 2022 Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam. Zuvor leitete sie die Arbeitsgruppe Multiple Repräsentationen am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) und war Professorin für Empirische Lehr-Lernforschung an der Eberhard Karls Universität Tübingen. In zahlreichen drittmittelgeförderten Projekten untersuchte sie verschiedene Aspekte des Einsatzes digitaler Medien im Lehr-Lernprozess.