Eine junge Frau wischt über das Tablet in ihrer Hand.
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„Frauen brauchen den Anwendungsbezug“ – ein Interview mit Kati Ahl

Frauen und Digitalität – jetzt! So lautet der fordernde Titel des im Herbst 2022 erscheinenden Fachbuches von Kati Ahl. Die Schulentwicklungsberaterin geht darin der Frage nach, warum sich Lehrerinnen bei der schulischen Digitalisierung oftmals zurückhalten und wie sich das ändern lässt. Denn Ahl ist sich sicher: Die schulische Digitalisierung kann von der weiblichen Perspektive profitieren. Wie? Darüber sprach sie vorab mit Einfach.Digital.Lernen.

Einfach.Digital.Lernen.: Frau Ahl, in der Ankündigung zu Ihrem Fachbuch heißt es: „Eine Kultur der Digitalität braucht Lehrerinnen.“ Wie kommen Sie zu dieser Aussage?
Kati Ahl: 73 Prozent der Lehrkräfte in Deutschland sind weiblich; in der Grundschule sogar noch mehr. Das heißt, dort wo Bildung beginnt, wo die Grundlagen gelegt werden, sind hauptsächlich Frauen aktiv. Der Gleichstellungsbericht 2021 und die Digital-Gender-Gap-Studie von 2020 haben mich zudem darauf gebracht, dass Frauen in der Tendenz deutlich anders auf digitale Medien und digitale Angebote zugreifen als Männer. Das entspricht auch meiner Erfahrung als Schulentwicklungsberaterin. Ich bin im Tandem mit einem Medienfachberater an Schulen unterwegs und obwohl die Mehrzahl der Lehrkräfte vor Ort weiblich ist, sind unsere ersten Ansprechpartner in der Regel Männer, IT-Beauftragte und Systemadministratoren. Und wir erleben, dass Frauen oder weibliche Lehrkräfte sich teilweise als weniger digital kompetent empfinden. Dazu gehört auch, dass Frauen die Tendenz haben, ihre Kompetenzen zu unterschätzen.

EDL: Wie erklären Sie sich die männliche Dominanz im Bereich der Schul-IT?
Ahl: Ich glaube, ein Grund ist die mangelnde Erfahrung der Frauen, dass Frauen weniger mit Technik in Berührung kommen und aufwachsen. Schon die Erziehung ist ausschlaggebend. In meinem Buch beschreibe ich eingangs, wie ich erzogen wurde. Mein Vater war Elektrotechniker und ich habe als kleines Mädchen mit fünf, sechs Jahren am Wochenende die elektrischen Widerstände nach ihrem Farbcode auf der Rückseite sortiert. Das war für mich gar nichts Besonderes; auch nicht, dass ich später in den Ferien damit Geld verdient habe, Platinen zu bestücken und zu löten, weil es in unserer Familie ganz normal war, dass ich mich – auch als Mädchen – mit Technik beschäftige. Das bringt mich zu einem weiteren Grund, der auch die Erziehung beeinflussen kann: Rollenklischees, die sich tradieren, ohne dass wir es merken, wie etwa das Klischee, dass Frauen Mathe und Technik „nicht können“. Die Folgen sehen wir im weiblichen Anteil an Studierenden im Informatikbereich oder im Startup-Bereich der Digitalbranche. Dort machen Gründerinnen lediglich einen Anteil von 17 Prozent aus. Rollenklischees wirken leider immer noch viel stärker, als uns das oft bewusst ist. Dabei fehlen Fachkräfte und die Frauen werden gebraucht!

EDL: Begründen Erziehung und Rollenklischees auch, weshalb sich Frauen als weniger kompetent im Umgang mit digitalen Medien empfinden?
Ahl: Nicht nur; zum Teil, so sagt zumindest die Digital-Gender-Gap-Studie, sind sie auch weniger kompetent. Wer sich in der Vergangenheit weniger mit der Digitalisierung und der zugehörigen Technik beschäftigt hat und aufgrund fehlender Ausstattung vielleicht auch weniger Gelegenheit hatte, sich damit zu beschäftigen, fühlt sich natürlich weniger kompetent und ist entsprechend zurückhaltender, die Digitalisierung aktiv mitzugestalten. Aber es fehlen auch Role Models. Es gibt diesen Ausspruch: „Seeing is believing.“ Was ich sehe, das kann ich mir auch vorstellen. Wenn eine Astronautin zum Beispiel den Unterricht besucht, kann ich mir eher vorstellen, selbst Astronautin zu werden. Gleiches gilt für eine Physikprofessorin oder Informatikerin. Diese Sichtbarkeit von Frauen in IT- und naturwissenschaftlichen Berufen fehlt uns noch. Und ich habe festgestellt, dass Frauen sehr gerne von Frauen lernen, dass sie sich über Mentorinnen freuen oder auch über gleichgeschlechtliche Gruppen. Das klingt jetzt erst mal widersinnig. Wir sind ja in Deutschland sehr koedukativ. Aber in England ist das ein ganz verbreiteter Ansatz, gleichgeschlechtliche Gruppen zu ermöglichen, damit die Mädchen besser zum Zug kommen. Von den Vorteilen haben mir auch viele Lehrkräfte berichtet. In gemischtgeschlechtlichen Gruppen läuft es oft so, dass der Junge programmiert, während sich das Mädchen zurückhält und zuschaut.

Ein Porträtbild der Fachbuchautorin und Schulentwicklungsberaterin Kati Ahl.

Ich möchte für die nächste Generation die Schule der Zukunft mitgestalten.

Kati Ahl (Foto: Oliver Steller)

EDL: Welche Probleme ergeben sich daraus, dass sich Lehrerinnen weniger in die schulische Digitalisierung einbringen?
Ahl: Ich war früher auch Ausbilderin am Studienseminar und habe das Fach Sachunterricht für die Grundschule gelehrt. Zu Beginn des Einführungsseminars habe häufig verschiedene Gegenstände bereitgestellt, die die unterschiedlichen Inhaltsbereiche des Sachunterrichts repräsentierten, und die Lehramtsreferendarinnen aufgefordert, sich für einen Bereich zu entscheiden und eine Unterrichtseinheit zu planen. Zum Sachunterricht gehören fünf unterschiedliche Perspektiven, unter anderem die naturwissenschaftliche und die technische. Und zu jedem Semester beobachtete ich erneut, wie die Lehramtsreferendarinnen wenig bis gar nicht bei den Symbolen für technische Inhalte zugriffen, aber stark bei den sozial-kulturellen Gegenständen. Das heißt, dass diese Aspekte letztlich weniger Eingang in den Unterricht finden. Dazu gibt es auch Forschungsarbeiten, die das bestätigen. Wenn wir also wollen, dass die Digitalisierung vorangeht, dann brauchen wir die weiblichen Lehrkräfte, die, wie schon gesagt, ja auch in der Mehrzahl sind. Dazu kommt, dass ich vermute, dass es durch die geringe weibliche Beteiligung im Zuge der Digitalisierung ein verkanntes Potenzial gibt. Denn Frauen brauchen den Anwendungsbezug in der Digitalisierung – das ist ein weiteres Ergebnis der Digital-Gender-Gap-Studie. Das heißt, wenn ein Sinnkontext erkennbar ist, ist ihre Motivation wesentlich höher: „Wofür will ich etwas programmieren? Was kann ich damit Sinnvolles für die Gesellschaft leisten?“ Und dieser Ansatz wäre für die Schule der Zukunft ein enormer Gewinn.

EDL: Heißt das, Frauen benötigen eine spezifische Ansprache, um sich für die Digitalisierung zu interessieren?
Ahl: Ja, Frauen brauchen Role Models, sie brauchen Mentorinnen, sie haben aber auch andere Zugriffsweisen. Wichtig ist daher, dass diejenigen, die programmieren, sie als Userinnen, als Kundschaft entdecken. Als sinnvoll würde ich es empfinden, wenn diejenigen, die Programme entwickeln, Lehrerinnen fragen würden: „Was braucht ihr für den Unterricht? Was spricht euch an?“ Lösungen wie Moodle oder Mebis sind allein schon optisch wenig ansprechend. Sie sind nicht intuitiv und bieten keinen niedrigschwelligen Einstieg für bisher wenig erfahrene Lehrkräfte.

EDL: Für Ihr Buch haben Sie auch Interviews mit Expert*innen zur Frage geführt, wie weibliche Lehrkräfte zu Gestalterinnen der Digitalisierung werden können. Was ist Ihr Fazit?
Ahl: Ich möchte für Jungen und Mädchen, also für die nächste Generation die Schule der Zukunft mitgestalten. Wenn wir wollen, dass Kinder nicht nur konsumieren, sondern aktive Gestalter und Gestalterinnen der Digitalisierung werden, dann müssen wir das als Erstes für die Lehrkräfte erreichen, damit sie als Vorbilder vorangehen können. Statt zu denken, „Na, die Frauen müssen jetzt endlich mal starten“, kann man auch versuchen, die Bedingungen so zu gestalten, dass die Frauen eingeladen sind, sich zu beteiligen. Und ich sehe da drei wesentliche Faktoren:

  1. Die Besonderheiten der weiblichen Zugriffsweisen berücksichtigen, mit Mentorinnen und Role Models arbeiten, Zugänge für Lehrkräfte ohne Vorkenntnisse erleichtern und Widerstand ernst nehmen. Viele Lehrerinnen arbeiten in Teilzeit, das müsste bei Angeboten berücksichtigt werden.
  2. Doing Gender vermeiden; also keine Geschlechterstereotype reproduzieren, etwa in der Ansprache, oder sie durch gleichgeschlechtliche Gruppen vermeiden, in denen Frauen eher wagen, in einem als männlich konnotierten Feld aktiv zu werden. Und
  3. Auf die jeweiligen Stärken fokussieren. Wir sind am stärksten, wenn Männer und Frauen mit ihren Kompetenzen gemeinsam die Digitalisierung für Schulen weiterentwickeln. Während Männer in der Tendenz über eine stärkere Offenheit, eine größere Experimentierfreude verfügen und weniger ängstlich an digitale Neuerungen herangehen, brauchen Frauen den Anwendungs- und Sinnbezug. Gamification ist für sie wenig verlockend. Wenn wir das zusammenpacken, können starke gemischte Teams entstehen, die die Digitalisierung für Schulen wesentlich mehr voranbringen und auch den Großteil der Lehrkräfte mitnehmen.