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„Ich denke nicht, dass es digitale Bildung gibt, wohl aber digital gestütztes Lernen“ – ein Interview mit Prof. Rolff

Es umfasst annähernd 1.000 Seiten, über vier Dutzend Wissenschaftler*innen haben daran mitgewirkt, es gilt schon jetzt als das Standardwerk zur Digitalisierung der Schulen im deutschsprachigen Raum – und trägt einen eher spröden Titel: das „Handbuch Lernen mit digitalen Medien“, herausgegeben von Gerold Brägger und Hans-Günter Rolff. Rolff, emeritierter Professor an der TU Dortmund und als ehemaliger Gründungsdirektor des Instituts für Schulentwicklungsforschung einer der renommiertesten Bildungswissenschaftler in Deutschland, hatte sich daran gestört, dass die Debatte vorwiegend darum rankt, was vielerorts noch nicht funktioniert – statt die Potenziale herauszuarbeiten. Wir haben mit ihm gesprochen.

Einfach.Digital.Lernen.: Das von Ihnen herausgegebene Buch wirkt in seinem Grundtenor sehr optimistisch, was die Chancen der Digitalisierung von Schulen betrifft. Gibt es für Sie Grenzen?

Hans-Günter Rolff: Ich stelle den Trend fest, auch bei Lehrerfortbildungen, dass in der Schule alles digitalisiert werden soll, was sich digitalisieren lässt. Ich bin der Meinung, man sollte nur das digitalisieren, was für den Unterricht und die Verwaltung einen Mehrwert ergibt: in der Feedbackkultur, das erläutere ich gerne noch, und beim personalisierten, individualisierten Lernen. Darauf sollte man sich konzentrieren.

Mit der Digitalisierung verstärkt sich leider auch die Neigung, alles bebildern und attraktiv machen zu wollen, was zum Teil albern ist. Bitte nicht falsch verstehen: Es gibt wunderbare Grafikprogramme, Harvard Graphics zum Beispiel, mit denen sich Modelle entwickeln lassen, um Schritt für Schritt in der Physik oder in den Sozialwissenschaften Zusammenhänge aufzuzeigen. Häufig wird aber mehr dekoriert als illustriert – offenbar, um sich den Albernheiten der Sozialen Medien anzupassen. Überall bunte Bilder einzubauen, das führt zur Trivialisierung von Bildung. Das sollten wir lassen.

Einfach.Digital.Lernen.: „Potenziale digitaler Medien für Schule und Unterricht beherzt ausschöpfen!“, so fordern Sie in dem von Ihnen herausgegebenen Buch*. Wie beherzt läuft das denn nach Ihrer Beobachtung in der Praxis?

Zu einem umfassenden Bildungsbegriff gehört allerdings mehr als Wissen und Kompetenzen, nämlich dass man Zusammenhänge erkennt und ganzheitlich darin denken kann.

Rolff: Die Schulen stellen sich, getrieben von den Erfahrungen aus der Corona-Krise, dem Thema Digitalisierung, und das durchaus beherzt. Alle Schulen sind auf dem Weg – und viele sind dabei schon fortgeschritten –, sich die nötige technische Infrastruktur anzuschaffen. Aber das Ganze läuft häufig zu oberflächlich. Es geht dabei im Wesentlichen um Apps und Methoden, um Breitband und WLAN für jedem Klassenraum, aber das, worauf nach unserer Überzeugung eigentlich gezielt werden sollte, das steht kaum im Fokus: nämlich eine neue Lernkultur. Meine Beobachtung ist, ich habe dazu ja auch Fallstudien gemacht, dass der Unterricht ziemlich konventionell weiterläuft. Dabei liegt die große Chance der Digitalisierung darin, dass wir damit endlich individualisiertes Lernen möglich machen.

Eine persönliche Eins-zu-Eins-Individualisierung ist mit dem vorhandenen Lehrpotenzial nicht möglich – und vielleicht auch gar nicht wünschenswert, das wäre ja eine Prinzen- und Prinzessinnenerziehung. Es gibt ja in der Schulwirklichkeit oft noch nicht mal genügend Lehrkräfte für die Abdeckung des normalen Stundenplans. Aber mithilfe der Digitalisierung lässt sich der Unterricht personalisieren. Das ist die zeitgemäße, auch international gebräuchliche Form von Individualisierung. In Großbritannien und den USA spricht man von „personal learning“. Personalisiertes Lernen ist möglich, wenn die Schule über eine Lernplattform bzw. ein Lernmanagementsystem verfügt, womit die Lehrkräfte den Lernstand ihrer Schülerinnen und Schüler diagnostizieren können – das machen Lehrpersonen bei uns bisher aus Erfahrung oder aus dem Bauch heraus –, aber mit digitalisierten Medien können sie das datengestützt machen. Sie können die Diagnosen nutzen, um den einzelnen Schülerinnen und Schülern gezielte Empfehlungen zu geben und ihnen geeignete Lernmaterialien aus der Lernplattform, die auch Lernmaterialien-Bibliothek ist, zur Verfügung stellen. So lassen sich die guten Schüler anders fördern als die, die Nachholbedarf haben, und die Lernstände regelmäßig prozessbegleitend evaluieren, um gegebenenfalls nachjustieren zu können. Das wäre Individualisierung in konsequenter Form und die ist nur mittels der digitalen Medien möglich – und diese werden dazu bisher extrem selten genutzt.

Einfach.Digital.Lernen.: Setzt das nicht auch gewisse technische Unterstützung voraus? Ich denke an Diagnose-Apps, die erst mal für die benötigten Daten sorgen?

Rolff: Da werden einige angeboten, auch von den großen Silicon-Valley-Firmen. Es gibt aber auch Schulen, die entwickeln selbst, was sie dafür benötigen, das Material-Netzwerk der Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg zum Beispiel. Die Lehrpersonen dort entwickeln gemeinsam Diagnose-, Lern- und Fördermaterialien und tauschen die untereinander aus. Die schulübergreifende Zusammenarbeit wird ja auch durch die digitalen Medien sehr erleichtert. Das ist ein großes Potenzial. Auch innerhalb einer Schule lassen sich solche Netzwerke entwickeln. Das machen bereits etliche Schulen. Die Lehrpersonen legen eine gemeinsame Bibliothek an, in der sie ihre Unterrichtsentwürfe speichern – und die Kolleginnen und Kollegen können das Material dann ebenfalls nutzen oder sich zu Eigenproduktionen anregen lassen. Und das geht natürlich nur auf freiwilliger Ebene beziehungsweise das Kollegium beschließt das gemeinsam.

Einfach.Digital.Lernen.: Das ist aber ein hoher Anspruch, wenn man den Lehrern die Entwicklung der Lernmaterialien auch noch mit auf das Auge drückt…

Rolff: Aufdrücken muss auch nicht sein. Wenn allerdings die Schulen fast alle Materialien von Firmen einkaufen, die natürlich gewinnorientiert arbeiten und nicht unbedingt pädagogisch orientiert sind, dann könnte die Folge sein, dass die Lösungen eher methodenorientiert sind und nicht inhalts- oder zielorientiert. Es wäre schon ein gutes Korrektiv, wenn die Schulen auch einiges selber machen, aber auf freiwilliger Basis und im Netzwerk mit Unterstützung. Darin liegt ein unglaubliches Potenzial. Überhaupt sollten wir mehr über Potenziale sprechen statt immer nur über Probleme.

Einfach.Digital.Lernen.: Sie fordern, den „Kompetenz- und Leistungsbegriff auf die Bildung in einer digitalen Welt auszurichten“. Nun verweisen Verfechter einer tradierten Bildung ja gerne darauf, dass Wissen zunächst mal als Grundstock da sein muss, um Kompetenzen erwerben zu können. Manche sind der Meinung, dass das Abheben auf den Kompetenzbegriff dieses Wissensfundament schwächt. Sie nicht?

Rolff: Wenn Bildung nur in Form von Kompetenzen definiert würde, dann wäre das tatsächlich keine vollständige Bildung mehr – und halbe Bildung gibt es nicht. Dass aber ein Teil dessen, was gelernt werden soll, an Kompetenzen orientiert ist, halte ich für sinnvoll. Klar, in den Sprachen zum Beispiel muss Wissen gelernt werden. Die daraus entstehende Sprachfähigkeit wird beispielsweise im verbreiteten Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen in Kompetenzen ausgedrückt, in verschiedenen Kompetenzniveaus – Verstehen der Sprache zum Beispiel, in der Sprache telefonieren zu können, ein Fachgespräch führen.

Zu einem umfassenden Bildungsbegriff gehört allerdings mehr als Wissen und Kompetenzen, nämlich dass man Zusammenhänge erkennt und ganzheitlich darin denken kann. Das ist in einer digitalen Welt, in der Informationen in großer Menge auf die Menschen einprasseln, wahrscheinlich wichtiger denn je. Bildung sollte als Persönlichkeitsbildung verstanden werden und dazu gehören auch Werte und Haltungen, die man kaum digitalisieren kann – und selbst wenn man es könnte, es lieber sein ließe. Ich denke nicht, dass es digitale Bildung gibt, wohl aber digital gestütztes Lernen.

Einfach.Digital.Lernen.: Dann fordern Sie – wie Sie eingangs unseres Gesprächs schon betont haben –, in den Schulen eine „Evaluations- und Feedbackkultur“ aufzubauen. Lehrkräfte lassen ja Tests und Klassenarbeiten schreiben, um zu evaluieren, wo ihre Schüler stehen. Ist das also nicht sowieso Teil der Schule schon seit Anno Tobak?

Feedback gibt es schon, solange es Schulen gibt – aber nur in eine Richtung: Die Lehrpersonen sagen den Lernenden, was sie gut machen und was nicht.

Rolff: Ja, aber unvollkommen. Evaluation und Feedback sind nicht dasselbe. Evaluation in Form von Klassenarbeiten gibt es in der Tat schon lange. Aber wenn Sie es als Lehrkraft in digitaler Weise evaluieren, dann können Sie eben personalisiertes Lernen praktizieren. Dann können Sie die Ergebnisse, nicht nur die Zensuren, sondern die individuellen Lernstände speichern und in einer Lernbiografie abbilden, dann können Sie Prozessverläufe analysieren und können Sie auch analysieren, ob ein Förderprogramm gewirkt hat. Das kann man nicht, wenn man vier Mal im Jahr eine Klassenarbeit schreibt oder eine Hausarbeit.

Feedback ist etwas anderes – und das gehört zu den größten Potenzialen digital gestützten Lernens. Die eigentlichen Treiber, die zu besseren Lernleistungen führen, sind drei: Erstens, Zielklarheit – Lehrkräfte müssen wissen, wohin sie mit ihrem Unterricht wollen –, zweitens, kooperative Unterrichtsentwicklung – damit der Unterricht abgestimmt ist und die Vorbereitung nicht zu Überlastungen führt – und, drittens, eine reziproke Feedbackkultur. Das wissen wir seit Langem und Hattie hat uns in seiner weltweit anerkannten Meta-Studie darin bestätigt.

Feedback gibt es schon, solange es Schulen gibt – aber nur in eine Richtung: Die Lehrpersonen sagen den Lernenden, was sie gut machen und was nicht. Dass umgekehrt die Lernenden den Lehrpersonen sagen, was bei ihnen ankommt und Ihnen beim Lernen hilft oder auch nicht, das wird so gut wie gar nicht praktiziert. Nun können Schülerinnen und Schüler ja nicht wissen, ob eine Lehrerin oder ein Lehrer gut vorbereitet ist oder nicht. Den Unterricht und die Lernmöglichkeiten können sie aber schon beurteilen und darüber wissen sie ja auch sehr viel. Sie sehen ja täglich Unterricht von mehreren Lehrpersonen, reden darüber und sind, dazu gibt es Untersuchungen, die das belegen, Experten für Unterricht. Bislang kam es nicht so recht in Gang, Schüler-Feedback einzuholen, auch weil es ziemlich umständlich war. Das kann man digital viel besser machen. Dafür gibt es leicht nutzbare Apps, die in Minutenschnelle Ergebnisse liefern und die Zeit lassen für deren Auswertung durch Lehrende und Lernende zur Verbesserung des Unterrichts.

Das Schülerfeedback ist enorm wirksam. Das können wir bei Hattie nachlesen. Der Messwerte für die Wirksamkeit von reziprokem Lehren und Feedbackkultur liegen bei ihm auf Rang 9 und 10 auf seiner 138 Faktoren umfassenden Rangliste der Einflussgrößen auf Schülerleistungen. Die Werte davor sind kaum größer. Digital gestützter Unterricht wird reziprokes Feedback vermutlich noch weiter nach vorn bringen.

*Handbuch Lernen mit digitalen Medien, herausgegeben von Gerold Brägger und Hans-Günter Rolff, gebunden, 981 Seiten, Beltz-Verlag, 98 Euro