Foto: Deutscher Philologenverband e.V.

Philologen-Vorsitzende Prof. Lin-Klitzing zu Gast bei AixConcept: „Wir brauchen auf jeden Fall einen Digitalpakt 2.0“

In der kommenden Woche läuft in Stuttgart die Bildungsmesse didacta 2023. Zu Gast am Stand von AixConcept, wo sie ein Live-Interview geben wird (am 8. März um 14.15 Uhr): die Bundesvorsitzende des Philologenverbands Prof. Susanne Lin-Klitzing. Wir sprachen mit ihr im Vorfeld den Lehrermangel und das, was Gutachter im Auftrag der KMK dagegen vorschlagen, über Entlastungsmöglichkeiten (wie die Frage, ob Korrekturen nicht auch von Externen geleistet werden könnten) und über die Digitalisierung – bis hin zu dem Punkt, was KI für die Schulen bringen wird.

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der KMK hat unlängst eine Vorschlagsliste vorgelegt, wie dem Lehrermangel begegnet werden sollte – von Mehrarbeit, über Hybridunterricht bis hin zu größeren Klassen. Aus Ihrer Sicht ein Instrumentenkasten aus dem Folterkeller?

Lin-Klitzing: … ein Instrumentenkasten, der überhaupt nicht an der Schulrealität und den Aufgaben, die Lehrkräfte Tag für Tag zu erledigen haben, ansetzt. Also von daher: eine Fehlorientierung. Um es konkret zu machen: Es gibt eine Menge an Aufgaben, die Lehrkräfte erledigen müssen, obwohl sie mit Unterricht nichts zu tun haben. Sie müssen abfragen, ob Kinder gegen Masern geimpft sind. Sie müssen IT-Zugänge für ihre Schülerinnen und Schüler erstellen. Sie müssen Klassenfahrten durchführen, planen, organisieren und dann auch noch abrechnen. Es gäbe viele Möglichkeiten, Lehrkräfte von unterrichtsfernen Tätigkeiten zu entlasten. Das aber nicht, um sie anschließend nur mit noch größeren Klassen oder Mehrarbeit zu belasten, wie von der SWK vorgeschlagen, sondern grundsätzlich.

Stattdessen: Verhaltensprävention. Nach dem Motto: Üben Sie mal ordentlich Achtsamkeit, dann geht es Ihnen besser. Uns geht es aber darum, dass sich an den Umständen etwas ändern muss. Nicht nur Verhaltensprävention, sondern auch Verhältnisprävention ist notwendig! Übrigens auch in Punkto Gesundheit. Jeder normale Arbeitnehmer bekommt regelmäßig den arbeitsmedizinischen Dienst in sein Büro geschickt, der guckt: Wie ergonomisch ist die Sitzhaltung? Wie ist die Qualität des Mobiliars? Wie ist das Licht? Schauen Sie mal in die Klassenzimmer oder in die Lehrerzimmer. Da sehen Sie fast nirgendwo eine vernünftige Ausstattung zum Arbeiten. Auch das belastet, wird aber nicht angesprochen.

Schönere Lehrerzimmer reichen aber doch wohl nicht aus, um den Lehrermangel zu kompensieren?

Lin-Klitzing: Nein, natürlich nicht. Dennoch muss der Arbeitsplatz Schule ein guter Arbeitsplatz sein. Nur dann ist er auch gesunderhaltend für die Lehrkräfte, die im Schuldienst sind. Und attraktiv für die, die zukünftig kommen sollen. Es kommt nämlich nicht nur darauf an, neue Kräfte zu gewinnen, Quer- und Seiteneinsteiger, die bestqualifiziert werden müssen. Es muss ein wesentliches Anliegen sein, die Bestandslehrkräfte wenigstens bis zur regulären Pensionsgrenze bzw. bis ins reguläre Renteneintrittsalter in ihrem Beruf zu halten. Diese sind erfahren und fachlich qualifiziert. Das ist nicht nur, aber besonders in den ostdeutschen Ländern wichtig, in denen der Lehrkräftemangel am stärksten ist und viele Kolleginnen und Kollegen demnächst 40 Jahre im  Dienst sind. Wenn diese mit derselben Besoldungsgruppe in den Schuldienst einsteigen, also beispielsweise E 13 oder A 13Z, mit der sie dann 40 Jahre später wieder rausgehen, wenn zudem noch die Arbeitsbedingungen schlecht sind, dann motiviert das eben nicht, im Dienst zu bleiben – sondern eher auszuscheiden. Deshalb lautet unser Plädoyer an die Kultusminister und -ministerinnen, mehr für die Bestandslehrkräfte zu tun, um sie im System zu halten. Und dafür dann doch noch die eigentlich längst überfällige Beförderung umzusetzen.

Ältere Lehrkräfte motivieren – auch über den Pensionseintritt hinaus?

Lin-Klitzing: Das ist noch eine andere Baustelle. Wir treten dafür ein, dass der Zuverdienst für Lehrkräfte, die gerne länger arbeiten wollen, nicht auf die Pension oder Rente angerechnet wird. Erfahrene, ältere Kolleginnen und Kollegen können für die Schulen enorm wichtig sein. Ihnen den Zuverdienst auf die Pension anzurechnen und ggf. dann die Pension deshalb noch zu kürzen, wie einige Länder dies tun, ist kontraproduktiv.

Angesichts der Dimension des prognostizierten Lehrermangels: Muss man nicht auch an die Arbeitsabläufe in Schulen heran? Konkret gefragt: Gerade an Gymnasien wird immens viel Zeit für Korrekturen aufgewendet. Muss das sein? Lassen sich Korrekturen nicht arbeitsteilig organisieren und damit ökonomischer gestalten, womöglich auch an Externe geben?

Lin-Klitzing: Gute Frage. Was ich mir vorstellen kann, ist zunächst mal eine vernünftige Überlegung dahingehend, wie lang Klausuren eigentlich sein müssen. Wir haben relativ lange Klausurschreibzeiten. Und dementsprechend viele beschriebene Blätter gilt es dann zu korrigieren, etwa bei Deutschkorrekturen oder den Korrekturen im Abitur. Hier ist unser Bestreben tatsächlich, auf eine einheitliche Prüfungszeitdauer zu kommen, die gegebenenfalls auch tatsächlich begrenzt wird. Damit wäre der Korrekturaufwand schon etwas geringer. Ich kann mir auch vorstellen, das ist aber noch Zukunftsmusik, dass auch KI dazu genutzt werden könnte, bestimmte Korrekturtätigkeiten zu übernehmen – bis zu einer bestimmten Grenze jedenfalls.

Viele Kommunen waren und sind nicht in der Lage, eine dauerhafte und nachhaltige Finanzierung der Digitalisierung zu gewährleisten. Dieses Problem ist bis heute ungelöst.

Was Sie ansprechen, im Team zu korrigieren, das kann ich mir eigentlich nicht so gut vorstellen. Wir haben ja die Regel: Wer lehrt, prüft auch. Ich korrigiere meine Klausuren und meine Arbeiten selber, weil der Erwartungshorizont, den die Schülerinnen und Schüler von mir kennen, ja von mir auch berücksichtigt wird. Wenn das mit wechselndem Korrekturpersonal geschieht, bin ich mir nicht sicher, ob das tatsächlich im Interesse der Schülerinnen und Schüler ist.

Zum Vorschlag der SWK, dafür Studierende einzusetzen, würde ich sagen, das ist nett gemeint, aber rechtlich nicht zu Ende gedacht. Wer übernimmt denn dann die Verantwortung für die Notenvergabe? Angesichts der gesellschaftlichen und politischen Aufmerksamkeit für Noten-Zeugnisse kann ich mir kaum vorstellen, dass man mit einem wohlgefälligen Auge draufblickt, wenn die Noten möglicherweise schlecht ausfallen. Sondern ich glaube eher, dass das gerade von Eltern sehr kritisch angeschaut würde. Zu Recht.

Sie haben eben das Stichwort KI schon selbst genannt. Müssen wir nicht auch grundsätzlich mal zu anderen Formaten kommen, um das Leistungsniveau von Schülerinnen und Schülern feststellen zu können? Weg von der Bewertung, hin zur Diagnose? Dann könnte man doch einfach öfter mal intelligente Software über Schülerarbeiten laufen lassen, um zu ermitteln, wo sie individuelle Stärken und Schwächen haben. So etwas gibt es ja längst.

Lin-Klitzing: Das finde ich als Diagnose– und Assistenztool hervorragend geeignet, wenn der Schutz der personenbezogenen Daten gewährleistet ist. Jede Schülerin und jeder Schüler kann in der individuellen Leistungsfähigkeit  betrachtet werden kann, was der Lehrkraft wichtige Hinweise geben kann. Das kann ich mir als ein gutes Hilfsinstrument vorstellen. Dann gilt aber auch: Diagnose ist etwas grundsätzlich Anderes als eine Bewertung mit entsprechenden Rechtsfolgen.

Bei der Digitalisierung der Schulen ruckelt es in der Fläche nach wie vor, dabei läuft die Finanzierung durch den Digitalpakt bald schon aus. Brauchen wir einen Digitalpakt 2.0?

Lin-Klitzing: Wir brauchen auf jeden Fall einen Digitalpakt 2.0. Wir brauchen eine verstetigte Finanzierung. Aber wir brauchen auch einen neuen Angang für die Finanzierung und die bürokratische Abwicklung. Eines der bis jetzt ungelösten Probleme ist ja, dass das Geld vom Bund über die Länder an die Schulen käme, wenn die Kommunen sagen können: Jawoll, wir steuern zu dem, was ihr finanzieren wollt, kontinuierlich anteilig und nachhaltig dazu. Genau das hat ja vielerorts nicht geklappt. Viele Kommunen waren und sind nicht in der Lage, eine dauerhafte und nachhaltige Finanzierung  zu gewährleisten. Dieses Problem ist bis heute ungelöst. Und das heißt: Wie bekommen wir das vorhandene Geld besser verteilt, so dass jede Schule, unabhängig von der kommunalen Finanzkraft, genügend für die angestrebten Ziele davon bekommen kann? Das muss gewährleistet werden. Ein Fortschritt ist, dass sich alle über die Problembestimmung relativ einig sind. Allein die Lösung steht noch aus. Genauso wie ein selbstverständlich nachhaltiger Umgang mit den angeschafften Geräten angegangen werden muss.

Ähnliches gilt für IT-Administration für Schulen. Da gibt es sogar einen Sondertopf im Rahmen des Digitalpaktes. Nur: Die Mittel werden nicht abgerufen.

Lin-Klitzing: Ja genau. Weil die Kommune einen Gutteil kontinuierlich mitfinanzieren müsste. Und wenn diese sagt: Das Geld, das wir haben, muss dringend in die Sanierung des Hallenbades und kann nicht in die dauerhafte Finanzierung der IT-Administration der Schulen gesteckt werden, dann kommen die Mittel vom Bund in der Schule nicht an.

Dabei gibt es genügend mittelständische Unternehmen, die IT-Administration für Schulen anbieten… und deren Leistungen, die die Schulen dringend benötigen, dann nicht abgerufen werden. Brauchen wir nicht mal eine Art Runden Tisch, um zu ermitteln, was gesellschaftliche Kräfte wie die Bildungswirtschaft einbringen können, um die Schulen zu entlasten?

Lin-Klitzing: Ich kann mir das weniger gut auf der nationalen Ebene vorstellen, die ist doch sehr weit von den Schulen vor Ort entfernt. Was ich mir aber gut vorstellen kann, ist, dass kluge Kooperationen im Land zwischen den Kommunen und regionaler Wirtschaft gefördert werden. Auf Landesebene hielte ich eine Zusammenarbeit mit professionellen wirtschaftlichen Anbietern für ein zumindest überlegenswertes Modell, damit keine Schule mehr hinter digitale Mindeststandards zurückzufallen braucht.

Wenn Sie jetzt – zauber, zauber – plötzlich Kultusministerin eines großen Bundeslandes werden würden: Was wären die ersten drei Maßnahmen, die Sie umsetzen würden?

Lin-Klitzing: Meine erste Maßnahme wäre tatsächlich ein kooperativer Tisch. Nicht im Sinne von: Wir machen jetzt einen Runden Tisch, um den Wählerinnen und Wählern zu demonstrieren, wie wichtig uns das Anliegen ist. Ich hätte tatsächlich gerne eine Plattform mit Vorschlägen aus der Praxis von Lehrkräften und Schulleitungen, um gemeinsam abwägen zu können, was aus der Sicht der Betroffenen kluge Vorschläge wären, um Arbeitsplatz- und Ausstattungsmängeln sowie dem akuten Lehrkräftemangel, der uns wahrscheinlich zwei Jahrzehnte begleiten wird, landes- und regionalspezifisch besser entgegentreten zu können. Also tatsächlich einen Dialog mit der Praxis, um daraus entsprechende Vorschläge generieren zu können.

Wir brauchen grundsätzlich mehr Personal, um im regulären Schulgeschäft überhaupt 100 Prozent Unterricht abdecken zu können

Das Zweite ist, ich wünsche mir, dass wir endlich mit einer langfristigen Planung für eine kontinuierliche Unterrichtsversorgung beginnen – gegen den bisher zyklisch wiederkehrenden Lehrkräftemangel. Eine vorausschauende, längerfristige Planung dafür hat die Politik bisher nicht, das haben die Ministerpräsidenten bisher nie gemeinsam mit ihren Kultus- und Finanzministern begonnen. Unter einer langfristigen Planung stelle ich mir vor, dass das Ziel – auch wenn es auf die Schnelle nicht zu erreichen ist – einer 130-prozentigen Unterrichtsversorgung festgeschrieben wird. Dann hätten wir eine kontinuierlich besser ausreichende Personalreserve. Das würde eben bedeuten, dass Unterricht für die Schülerinnen und Schüler endlich gesichert würde, auch dann, wenn Kolleginnen und Kollegen krank sind, wenn sie in Elternzeit sind, wenn sie für das ganz normale und reguläre Schulgeschäft auf Klassenfahrt sind oder Projekte betreuen. Wir brauchen grundsätzlich mehr Personal, um im regulären Schulgeschäft überhaupt 100 Prozent Unterricht abdecken zu können. Denn dazu reicht eben diese sogenannte 100-prozentige Unterrichtsversorgung oder eine knapp darüber nie aus.

Die ja vielerorts noch nicht mal erreicht wird.

Lin-Klitzing: Die sogar noch deutlich unterschritten wird. Genau.

Der dritte Punkt: Ich möchte, dass die Kollegen und Kolleginnen für das, was sie leisten, solide befördert werden. Es gibt aus meiner Sicht nicht genügend Bewährungsaufstiege und zu wenig umgesetzte Beförderungen. Und es gibt zudem noch eine strukturelle Beförderungsungerechtigkeit. Beispielsweise die reguläre Ausschreibung und Besetzung von E bzw. A 14 Stellen, das ist etwas, was in vielen ostdeutschen Bundesländern überhaupt nicht mehr vorkommt. Zwischen „Normallehrkraft“ und einer Beförderung für eine stellvertretende Schulleitung oder Schulleitung gibt es dann gar nichts mehr. Dazwischen gibt es aber ganz viele Aufgaben wie z.B. die Oberstufenkoordination, die grundsätzlich als ein Beförderungsamt mit E oder A14 besoldet werden sollte. Diese Aufgaben strukturell wertzuschätzen, das ist über Jahrzehnte vernachlässigt worden. Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern – und dort ist der Lehrkräftemangel ist ja auch am stärksten. Der Beitrag erschien zunächst auf News4teachers.de. Wir bringen ihn hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


AixConcept auf der didacta

Live-Gespräche mit Praktikerinnen und Praktikern aus Schule und Verwaltung, Produkt-Präsentationen und ein innovatives Unterrichtsformat – AixConcept bietet auf der didacta 2023 in Stuttgart ein pralles Info-Programm rund um die Digitalisierung der Schulen. Prominente Gäste haben sich angesagt: neben Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing der Ehrenvorsitzende des Didacta Verbands Prof. Dr. mult. Wassilios E. Fthenakis, der Bundesvorsitzende des Deutschen Realschullehrerverbands VDR Jürgen Böhm sowie Cornelia Schneider-Pungs, Teamleiterin für den Schulbereich von Microsoft Deutschland.

Hier geht es zum vollständigen Standprogramm von AixConcept: https://aixconcept.de/didacta-2023/

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