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Vom Lehramt auf die Bühne: Ein Interview mit Selina Seemann über Slam Poetry und Digitalität

Kann man im Internet- und Social-Media-Zeitalter aufwachsen und Lyrik lieben? “Ja, klar!,” sagt die mehrfach ausgezeichnete Slam Poetin Selina Seemann, die soeben ihr zweites Buch #kleingedrucktes veröffentlicht hat. Wir sprachen mit ihr über Twitter-Lyrik, künstliche Intelligenz und den Umgang mit Digitalität in der Schule. Spoiler: Am Ende des Textes finden Sie Hinweise zur Buch-Verlosung!

Einfach.Digital.Lernen: Fallen wir mal mit der Tür ins Haus: Eigentlich hatten Sie vor Lehrerin zu werden, haben auf Lehramt studiert. Jetzt sind Sie Slam Poetin. Wie kam es dazu?

Selina Seemann: Sprache hat mich schon immer begeistert und gleichzeitig kannte ich wenig Berufe, in denen ich etwas mit Sprache machen konnte – da war Lehramt dann naheliegend. Ich habe allerdings in meinen Schulpraktika gemerkt, dass mir zum einen das frühe Aufstehen ein Graus ist und dass ich zum anderen das Gefühl habe, den Kindern und Jugendlichen nicht gerecht werden zu können. Da saßen um acht Uhr morgens 30 Menschen in einem Raum und ich hatte 45 Minuten Zeit, um ihnen Vokabeln beizubringen, das war nicht das Richtige für mich. Ich habe mich dann dazu entschieden, im Master Kultur-Sprache-Medien zu studieren und bin (durch ein weiteres Praktikum) wieder mit der Spokenword-Szene in Kontakt gekommen. Als Jugendliche hatte ich bereits erste Erfahrungen bei Poetry Slams gesammelt und wurde ermuntert, es doch mal wieder zu probieren. Und dann ging es eigentlich ganz schnell, nach etwa einem halben Jahr habe ich gemerkt, dass ich davon leben kann und nie zurückgeblickt. Kurzgesagt: Ich dachte lange, allein vom Schreiben könne man nicht leben und als ich dann gesehen habe, dass es doch geht, habe ich den Sprung vom Lehramt auf die Bühne gewagt.

EDL: Wann haben Sie Ihre Liebe zur Lyrik entdeckt?

Seemann: Gelesen habe ich immer gern, wann genau Lyrik dazukam, kann ich nicht mehr genau rekonstruieren. Zum Glück hatte ich sehr guten Deutschunterricht und konnte dort viel entdecken und mitnehmen. Nur mein Abi musste ich dann ausgerechnet über Naturlyrik schreiben, und mit der konnte ich so gar nichts anfangen. Ein bisschen schade fand ich, dass wir fast nur Lyrik von Männern gelesen haben und wenig Lyrikerinnen. Ich fand zwar einiges von Storm oder Shakespeare recht nett, habe dann aber später erst die tollen Sachen von Marie Luise Kaschnitz, Hannah Ahrendt oder Mascha Kaléko für mich entdeckt. Auf der Bühne war Lyrik dann gerade am Anfang einfach naheliegend, da Reim und Rhythmus eine gute Struktur zum Entlanghangeln geben.

EDL: In Ihrem ersten Buch, „Ahoi! Gedanken aus dem Nichtschwimmerbecken“, haben Sie Alltagsgeschichten, Gedichte und Briefe zusammengestellt. Ihr neuer Band #kleingedrucktes liest sich eher wie ein Twitter-Tagebuch, entstanden „aus vielen Jahren unkontrolliertem Internetkonsum“, wie es im Vorspann heißt. Was ist für Sie das Faszinierende an Tweets?

Seemann: Die Kürze der Tweets ist, was mich so reizt. Ich empfinde großen Genuss dabei, eine Pointe auf wenige Worte herunter zu kürzen, den Witz auf nur das nötigste zu reduzieren, dadurch entsteht eine Unmittelbarkeit, die man sonst in kaum einem Medium erreicht. Meine Tweets sind eine Art, den ständigen Gedankenstrom aufzuschreiben. Und ich bin natürlich ein Kind der späten 90er, die ersten SMS, die ich damals (leidenschaftlich) geschrieben habe, hatten auch eine Zeichenbegrenzung, es fühlt sich einfach richtig an.

EDL: Und was würde Ihr ehemaliger Deutschlehrer dazu sagen?

Seemann: Mein alter Deutschlehrer war häufig bei Auftritten von mir, der hat also eine Ahnung, was ich da so mache – und er hat mein Interesse am Schreiben früh erkannt und gefördert. Auf Twitter folgt er mir glaube ich nicht, aber er kann ja jetzt das neue Buch lesen. 🙂

Liebe ist die stärkste Ente der Welt

Eloquentron3000

EDL: Sie haben gemeinsam mit Ihrem Kollegen Fabian Navarro den Eloquentron3000 entwickelt, einen Bot, der auf Instagram Gedichte schreibt. Was hat es damit auf sich?

Seemann: Das Projekt ist zunächst aus einem Scherz heraus entstanden, Fabian hat den Bot geschrieben und ich habe diese computergenerierten Zeilen genommen und auf ein Bild eines kitschigen Sonnenuntergangs gelegt, wie es viele dieser Sprüche-Seiten im Internet tun. Daraufhin haben wir überwältigende Resonanz erhalten und weiter gemacht, der Bot spuckt in Sekundenbruchteilen massenhaft Lyrik aus und wir kuratieren die Ergebnisse und stellen sie auf Instagram. Inzwischen beschäftigen wir uns dadurch mit viel größeren Themen wie etwa künstlicher Intelligenz, Big Data oder Digitalisierung. Außerdem sind wir beide faul und dachten, dass es doch toll wäre, wenn ein Bot unsere Arbeit machen könnte.

EDL: Ist jetzt zu befürchten, dass Künstliche Intelligenz demnächst Kunstschaffende obsolet macht?

Seemann: Noch brauchen wir uns da keine Sorgen machen, der Bot schreibt nicht aus eigenem Antrieb und er braucht Menschen, die ihn füttern und seine Ergebnisse sortieren. Ich bin außerdem davon überzeugt, dass das Publikum weiterhin andere Menschen sehen möchte, die Kunst machen. Obwohl der Bot Zeilen hervorbringt wie „Und mit jedem Herzschlag stirbt ein Gedankengebäude“, schreibt er manchmal auch Dinge wie „Liebe ist die stärkste Ente der Welt“. Und so lange mache ich mir da keine Gedanken.

Ich habe oft den Eindruck, dass die Digitalität an den falschen Stellen kritisiert wird.

Selina Seemann

EDL: Sie gehören zu den Digital Natives. Am Ende Ihres Buchs danken Sie Ihren Eltern dafür, dass sie Sie immer ins Internet gelassen haben. Können Sie denn auch die Bedenken gegenüber Digitalität nachvollziehen, die viele Eltern und auch Pädagog*innen haben?

Seemann: Ich bin in diesem magischen Zeitfenster aufgewachsen, in der ich alle Möglichkeiten des Internets nutzen konnte und meine Eltern gleichzeitig gar nicht wussten, was dort so alles passiert, weil es eben noch neu war und sie das selbst erst lernen mussten. Ich habe oft den Eindruck, dass die Digitalität an den falschen Stellen kritisiert wird. Es ist nicht per se schlecht, mit neuer Technologie umzugehen und sie zu nutzen und Jugendlichen kategorisch Smartphones etc. zu verbieten halte ich für weltfremd und reaktionär. Es ist viel wichtiger, jungen Menschen beizubringen, die Inhalte im Internet kritisch zu hinterfragen und einordnen zu können. Und auch da muss ich zu den Kids halten: Weitergeleitete Nachrichten mit Falschinformationen, Kettenbriefe und furchtbare Comedy-Videos habe ich bisher nur von älteren Verwandten und Bekannten geschickt bekommen, nie von Jugendlichen. Natürlich gibt es viel Verstörendes und für das Alter Unangemessenes im Internet zu sehen, ich denke jedoch, dass es wichtiger ist, dass Kinder und Jugendliche angstfrei danach fragen und sich Hilfe holen lernen, wenn sie etwas überfordert, als in Schulen ganz generell auf iPads oder Handys zu schimpfen.

EDL: Haben Sie zufällig ein paar Ideen, wie Schüler*innen, die im Digitalen zuhause sind, ermutigt werden können, sich an lyrischen Texten zu versuchen?

Seemann: Ich glaube, Vorbilder helfen und dass man die Schüler*innen ernst nimmt. Es gibt einige Menschen, die tolle Online-Angebote bieten, meine Kollegin Teresa Reichl zum Beispiel erklärt auf Tiktok verständlich und fundiert Dinge zu Literatur und Lyrik, etwa was ein Metrum ist. Und ich glaube, es hilft zu wissen, dass der beste Weg immer noch Ausprobieren ist, es muss nicht alles perfekt sein, was man produziert, es ist nur wichtig, überhaupt damit anzufangen, wenn man das möchte. Es ist außerdem vollkommen okay, Reimlexika zu benutzen, das machen die Profis auch.

EDL: Wie könnte man Sie motivieren, doch noch als Lehrerin an einer Schule zu arbeiten?

Seemann: Schulbeginn nicht vor 13 Uhr, maximal 4 Stunden pro Tag, 6000€ Gehalt und die Schüler*innen müssen cool sein.

EDL: Noch eine Fleißaufgabe zum Schluss: Welche Frage(n) hätten Sie sich gerne in diesem Interview gestellt?

Seemann: Fand die Fragen gut 🙂 Vielen Dank!

Foto: Victoria Helene Bergemann

Selina Kristin Seemann…

… wurde 1993 in Flensburg geboren und lebt nun weiter im Süden, in Kiel. Seit 2016 steht sie als Slam Poetin, Autorin & Moderatorin regelmäßig auf Bühnen im deutschsprachigen Raum. 2020 wurde sie Vizemeisterin im Poetry Slam in Schleswig-Holstein, ist mehrfache Siegerin des NDR Poetry Slam auf Plattdeutsch und Stammautorin bei der größten und erfolgreichsten Lesebühne Schleswig-Holsteins, „Irgendwas mit Möwen“. Einmal wurde sie von einem Fremden in einer Disco erkannt. 

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Bild: KJM Buchverlag

Selina Seemann

kleingedrucktes

Tweets, Kurztexte und 25 kurze Gedichte
Mit Zeichnungen von Gregor Hinz
192 Seiten, 14,5 x 21,8 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-96194-175-9
KJM Buchverlag
€ (D) 18,00